Der falsche Indikator

Mein Blick schweifte zur Frau in beige. Ich betrachtete ihre Hose.

Wo war der Fleck?

Wie konnte das sein?

Helle Hose, dunkler Fleck – einfach weg?

Der Schaffner war gekommen und hatte den Onkel aus seiner Meditation gerissen und mich aus der Polyesterwelt, in der ich zu versinken drohte. Er fragte nach den Fahrkarten. Die Ablenkung tat uns beiden gut. Der Atem meines Onkels und seine Körperhaltung waren wieder entspannt. Die Dame am Fenster begann ein Gespräch über die ständig steigenden Zugpreise. Sie hätte nicht mehr das Gefühl, dass ein adäquater Lebensstil im Alter möglich wäre und dass das Geld auf ihrem Konto immer weniger wert würde. Sie beklagte sich nicht. Es war eher eine Feststellung, und es lag ein Ausdruck der Besorgnis in ihrer Stimme.

„Meine Dame, da haben Sie einerseits recht und andererseits auch wieder nicht.“

Sie blickte interessiert zum Onkel.

„Wenn ich erklären darf?“, fragte er nach Art des vollendeten Gentlemans.

Sie nickte.

„Gerne.“, sagte sie und lächelte den Onkel an.

„Der Wert unserer Einkommen ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre stetig gesunken. Aber im Durchschnitt gesehen sind wir alle reicher geworden. Unser Lebensstandard ist gestiegen. Immens sogar. So viele Menschen wie nie zuvor können sich eine Reise mit dem Zug leisten. Vieles ist teurer geworden, vieles aber auch wesentlich günstiger.“

„Das hören und lesen wir ja dauernd.“, sagte sie.

„Und sie sehen das offenbar auch so. Wie erklären Sie sich, dass sich die meisten Menschen trotzdem ärmer fühlen als noch vor ein paar Jahren?“, fragte sie den Onkel, während sie sich charmant eine Strähne aus dem Gesicht strich.

 „Wahrscheinlich sollten sich die meisten Menschen mit mehr Dingen beschäftigen, die sie fernab der monetären Welt bereichern. Das hilft im Allgemeinen.“
Jetzt konnte ich ihren Blick nicht deuten. War sie beschämt ob seiner Bewertung der Oberflächlichkeit der meisten Menschen – sie in diesem Fall eingeschlossen. Oder beeindruckte sie seine kritische Haltung?

Er fuhr unbeirrt fort: „Unsere nationale Produktion und somit auch das nationale Einkommen steigen stetig, wenn auch weniger als noch in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts. Umgelegt auf uns alle heißt das, dass unsere Einkommen im Durchschnitt auch steigen. Das Gefühl der meisten Menschen, ärmer zu werden, ist aber trotzdem richtig. Die meisten Menschen werden auch ärmer. Zumindest während der letzten zehn Jahre hat sich ihre Kaufkraft verringert.“

Die Dame mit der Plastikhose versuchte offenbar, den Ausführungen meines Onkels zu folgen und sah ihn etwas verwirrt an.

„Wie erklären Sie sich dann, dass man uns immer weißmachen will, dass wir nicht ärmer werden? Müssen wir uns belogen fühlen?“, fragte die Dame am Fenster.

„Belogen? Nein! Ein wenig in die Irre geführt vielleicht. Es ist der falsche Indikator. Es ist das Problem mit dem Durchschnitt. Durschnitt taugt eben nichts. Nicht im Leben und nicht in der Statistik.“, sagte er.

„Eine Kennzahl, die die häufigste Ausprägung eines Wertes zeigt,“ fuhr er fort, „würde wirklich passender sein. Man würde dann sehen, wie viele Menschen gleich oder ähnlich viel verdienen, wie die meisten anderen im Land. Und es würde zeigen, wie viele – oder besser wenige – sehr viel mehr verdienen als all die anderen.“

Er griff in seine rechte Hemdtasche, holte sich seinen obligaten Notizblock und einen Stift und begann eifrig zu zeichnen.

Er reichte der Dame das bekritzelte Blatt Papier und fuhr fort: „So macht es Sinn. Die meisten Werte um einen zentralen Wert sind das Aussagekräftigste, um die reale Situation darzustellen.“

Sie nahm das Blatt und betrachtete es.

„Das Durchschnittseinkommen hingegen“, fuhr mein Onkel fort, „zeigt uns das gesamte Einkommen innerhalb eines Staates, geteilt durch alle Einwohner. Danach hätte jeder dasselbe Einkommen. Und das steigt, kontinuierlich, ob mit oder ohne Inflation. Die Einkommen sind jedoch nicht gleich verteilt. Wenige bekommen wesentlich mehr als früher und viele doch spürbar weniger. Sie liegen also gar nicht falsch mit ihrem Gefühl.“

Die Dame reichte das Blatt an die Frau in Polyester weiter. Diese warf einen flüchtigen Blick darauf und grinste verlegen, bevor sie es an mich weitergab. Ich nahm es an mich, faltete es und verstaute es in meiner Hosentasche.

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