Am Tag der Eröffnung der neuen Bibliothek war die Aula geschmückt mit Transparenten des Sponsors. Unter einem weißen Laken versteckte sich das in Kürze zu enthüllende Firmenlogo auf Metall gepresst, fertig zum Anbringen direkt über dem Haupteingang der Bibliothek. Über drei dunkelblauen Lettern für die Kurzbezeichnung des Ölkonzerns konnte man lesen: „Dank an den großzügigen Spender“ – in giftgrün gehalten. Der Nebenbereich der Bühne war vom Publikumsbereich her schwer einsichtig. Drei Stufen führten hinter einem riesigen Lautsprecher auf das Podest, auf dem ein weiß lackiertes Rednerpult stand. Daneben war ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend aufgebaut, das ich selbst an unserer Uni schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte: Ein Projektor. Ein mit Licht gefüllter Kasten, oben verschlossen mit einer riesigen Glaslupe. Legt man eine Folie drauf, auf die man mit einem speziellen Stift etwas notiert, sorgen die an einem Arm über dem Gerät angebrachten Spiegel dafür, dass das Werk an die Wand geworfen wird – über den Kopf des Verfassers hinweg – daher der Name ‚Overhead‘.
Kurz bevor der Onkel erschien, konnte man ein Poltern hören. Eine Hand und der Ansatz eines Kopfes waren in der Nähe des Podestbodens zu sehen. Im nächsten Moment tauchte hinter dem Lautsprecher, den der Onkel mit seinen stattlichen Maßen knapp überragte, er selbst auf. Er glättete die Frisur und machte einen Schritt nach vorne, indem er die letzte Stufe hinter dem Lautsprecher nahm. Noch mit dem Zurechtzupfen seines Anzuges beschäftigt, drehte er sich zum Publikum. Nach einem kurzen Augenblick, in dem er sich zu sammeln schien, macht er einen kleinen Schritt nach vorne, noch näher an das Rednerpult heran, stellte sich kerzengerade dahinter und man hörte ihn mit fester Stimme sagen: „Theodor Fontane sagte einmal: ‚Wer ein Ziel hat, darf den Weg nicht scheuen, sei er glatt oder rau.‘ “
Er lächelte. Sein Gesicht nach unten geneigt, sagte er: „… oder eben voller Stufen, auf denen Menschen wie ich stolpern.“
Einige Zuhörer räusperten sich, einige lachten leise.
Der Onkel fuhr fort, sein Gesicht wieder ganz dem Publikum zugewandt: „Manche Stufen müssen wir aber nehmen, wenn es auch schwer ist.“
Er hielt kurz inne, um dann das genaue Gegenteil von dem zu verkünden, was man von ihm erwartet hatte.
„Sehr verehrtes Kollegium!“, sagte er an das Professorengrüppchen gewandt, das rechts des Rednerpultes in zwei Reihen saß.
Dann ließ er seinen freundlichen Blick ganz langsam über die zahlreich erschienen Studenten schweifen, die sich in der Mitte der Aula direkt vor dem Rednerpult versammelt hatten, und begrüßte sie.
„Schön, euch zu sehen!“, sagte er.
Ein Student pfiff übermütig, einige klatschten kurz.
„Werte Gäste!“, sagte er knapp und nickte mit emotionslosem Gesichtsausdruck in Richtung der Delegation des Konzerns, der die Gelder für die Sanierung der Bibliothek bereitgestellt hatte.
„Adam Smith hat zwei bahnbrechende Bücher geschrieben. Eines über die ethischen Gefühle. Und eines, in dem er sich dem Volkswohlstand widmet. Damit ist ein Zustand gemeint, in dem alle wohl bestehen können.“
Er nahm einen dicken Stift, der am Pult vor ihm lag, entfernte die Kappe und lehnte sich über den Projektor.
Ganz oben auf die Folie schrieb er ‚Volkswohlstand‘.
„Das Werk über den Wohlstand der Nationen – oder wenn man will der Völker – ist neunhundert Seiten lang und umfasst fünf Bücher. In einem davon stehen im englischen Original zwei Wörter hintereinander.“
Auf der Folie links in der Mitte vermerkte er die zwei Wörter.
„‚Invisible‘ und ‚hand‘“, sagte er dabei und hob den Kopf. Er bedachte seine Studierenden mit einem wohlwollenden Blick.
Es schien, als würde er nur mit ihnen allein reden. Als würde er ihnen sagen wollen: „Ich weiß, dass ihr das versteht. Seit mehr als zwei Jahrhunderten ist man sich nicht zu blöd immer wieder zwei Wörter aus einem umfassenden und bahnbrechenden Werk zu zitieren. Damit will man alles erklären und hat doch nichts verstanden. Adam Smith würde sich im Grabe umdrehen. Aber was soll’s, ich erklär es denen da drüben auf den Sitzplätzen einmal mit einfachen Worten.“
„Wenn alle so agieren, dass sie ihren eigenen Nutzen maximieren, regelt sich der Markt – also Angebot und Nachfrage – ganz von selbst, wie durch eine unsichtbare Hand.“
Wieder beugte er sich etwas nach vor und malte unter die Worte ‚invisible hand‘ ein Kreuz auf die Folie. An die Enden der Horizontalen malte er etwas, das wohl zwei Körbe darstellen sollte.
„Jedem muss klar sein, dass das einige Wenige sehr glücklich macht und ganz Viele eher weniger.“
Dann setzte er unter das Gebilde, das wie eine Waage aussah, einen Hügel. Jetzt sah es aus wie ein unendlich trauriges Männchen mit dicken Tränensäcken.
Er blickte wieder vom Projektor auf und fuhr mit seinen Ausführungen fort: „Aber!“, sagte er mit mahnender Stimme. „Das erste vielbeachtete Buch, das Adam Smith schrieb – viele Jahre, bevor er seine Gedanken über die Arbeitsteilung, das Marktgleichgewicht und die Aufgaben des Staates zu Papier brachte, war ein Buch über die Moral.“
Er senkte den Kopf wieder in Richtung der Folie und schrieb an den rechten Rand – etwas weiter unten – das Wort ‚Moral‘.
„Die Moral des Staates -“, sagte er, während er die Umrisse eines Parlamentsgebäudes zeichnete, „und die der Menschen.“
Er malte einige Strichmännchen links neben das Gebäude. Dann legte er seinen Kopf ein wenig zur Seite, betrachtete sein Werk und fuhr fort: „Letztere“, er zeigte auf die Männchen, „sind durch nichts anderes zu moralisieren als durch stetige Bildung!“
Er machte eine kurze Pause, dann hob er seinen Kopf und schaute über die Menge hinweg, als würde er sich sammeln, bevor er die große Neuigkeit an alle hinausposaunte.
Vom Parlamentsgebäude her zeichnete er dann einen Pfeil auf das Grüppchen von Menschen, das links neben dem Gebäude war und sagte: „Dafür muss der Staat Sorge tragen.“
„Der Staat!“, wiederholte er.
Einige Studenten und auch einige Professoren applaudierten. Eine allgemeine Unruhe machte sich im Saal breit, vor allem auf den Sitzplätzen. Die Gäste in den grauen Anzügen verzogen keine Miene, bis auf einen, der heftig den Kopf schüttelte. Der Onkel fuhr unbeirrt mit seiner Zeichnung fort. Er ließ die Konstrukte und Figuren zu Teilen einer großen Waage werden.
Um das allgemeine Gemurmel zu übertönen, sagte er laut: „Wiegt das freie Spiel der Marktkräfte in einer Volkswirtschaft mehr als die Moral, so kann kein Gleichgewicht herrschen. Für den Volkswohlstand schaut es daher eher schlecht aus.“
Die Überschrift seiner Zeichnung strich er durch.
Er steckte die Kappe des Stiftes auf denselben, schaute in die Menge und sagte: „Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!“
Dann nickte er und verließ unter tosendem Applaus und dem Johlen der Studenten die Bühne.